31. März 2011: Oberland Nachrichten (SIMONE WALD)

«Ich verschenke Lebenszeit»

AZMOOS. Ein Besuch beim Tauschtreffen der Zeitbörse. Die Zeitbörse hat auch etwas Philosophisches, aber das ist nicht das Wichtigste. Wir haben ein Treffen der Börsianer in Azmoos besucht. Der Regionalleiter Peter Egli sprach über den Wert der Arbeit und erklärte die Abläufe.

 

Grosses Hallo. Im Souterrain des Azmooser Betagtenheimes steht den Zeitbörsianern ein kostenloser Raum für die monatlichen Treffen zur Verfügung. Wer sich noch nicht persönlich kennt, macht rasch ‹Duzis› miteinander. Einige sind schon viel früher da, wie etwa Johanna, die ihr selbstgebackenes Dinkelbrot und den vierfach gewaschenen Nüsslisalat arrangieren muss, die sie gegen Zeit und einen Obolus für den Materialeinsatz tauschen will. Beat bringt farbenfrohe Frühlingsgestecke, die seine Frau hergestellt hat, auch er nimmt beide Währungen: Geld für das Material und Zeit für das Stecken. Das wirft die erste Frage auf, denn schliesslich sollen die Tauschaktionen ohne Bargeld ablaufen. Doch das geht nicht immer. So, wie Johanna einen Franken pro Brot bekommt, werden auch Ersatzteile für Reparaturen zum Einkaufspreis vergütet. Regionalleiter Peter Egli, der als Musiklehrer arbeitet, erklärt: «Wenn ich eine Gitarre wieder herrichte, sie reinige und neue Saiten aufziehe, dann stelle ich neben der Zeit, die ich dafür brauche, auch das Material, in dem Fall die Saiten, in Rechnung. Eigentlich geht man mit einer solchen Arbeit nicht zu einem Musiklehrer, aber die Zeitbörse machts möglich.» Keiner wüsste ausserhalb der Zeitbörse, wie man eine solche Arbeit eigentlich vergüten könnte. Aber mit der gutgeschriebenen Zeit ist das kein Problem. «Es geht nicht darum, das Gewerbe zu konkurrenzieren », so Egli, sondern darum, die Leute wieder ein wenig näher zusammenzubringen.»

Resümee des vergangenen Monats

Inzwischen ist es 18.30 Uhr. Johanna wird nervös, denn Bruno fehlt noch. Er hatte ihr versprochen, die Videofilme, die er für sie auf DVD überspielt hat, heute mitzubringen. Doch sie wird nicht enttäuscht, Bruno kommt noch, legt ihr die überspielten Filme auf den Platz und sichert sich auch gleich eines ihrer Brote. Nun erzählt jeder, was seit dem letzten Treffen so über den imaginären Ladentisch gegangen ist. Erika hat viel massiert und war selbst bei einer anderen Börsianerin zur Massage. Ausserdem leistet sie sich aufgrund der angesammelten Stunden oft eine Putzhilfe. Doch das darf man sich nun keineswegs so vorstellen, dass Erika mit einem Drink in der Sonne sitzt, während jemand ihre Hausarbeit erledigt. Geputzt oderEim Garten gearbeitet wird gemeinsam. Da sind sich alle einig. Es geht leichter von der Hand und macht Spass. Das berichtet auch Johanna, die mit einer befreundeten Börsianerin oft so arbeitet. «Wir telefonieren und entscheiden, ob wir heute bei ihr oder bei mir im Haus oder im Garten arbeiten», sagt sie. Gerade bei Johanna, die sehr aktiv ist, ergibt sich ein Problem. Sie hat schnell das Maximum von 20 Stunden Guthaben und da ist es anderen Mitgliedern nicht mehr möglich, ihr Zeit gutzuschreiben. Dann ist sie regelrecht gezwungen zu nehmen statt zu geben. Theoretisch hätte sie die Möglichkeit, ihre Stunden zu verschenken. So könnte sie beispielsweise Roland, den Photoshop-Experten, bitten, ausnahmsweise für ein Nichtmitglied Bilder zu bearbeiten. Sie würde Roland die Zeit gutschreiben, die er für ein Nichtmitglied gebraucht hat. Problemlos können Stunden zwischen den Mitgliedern verschenkt werden, was sicher bei manchen Ehepaaren auch rege genutzt wird. «Manchmal» sagt Peter Egli, «muss man auch ein bisschen flexibel sein.» Zwischen vier und sechs Stunden sollte der wöchentliche Aufwand maximal betragen, was nicht bedeutet, dass jede Woche eine Leistung erbracht werde muss. Doch die wenigen Experten, die Bäume schneiden können, eine saisonale Arbeit, dürfen mit Sondergenehmigung auch mehr als 20 Stunden ansparen. «Aber im Sommer müssen diese Stunden wieder abgebaut werden», sagt Egli. Er ist derjenige, den man zu Rate zieht, wenn sich solche oder ander Probleme ergeben. Er ist es auch, der zu Benevol, einer Dienstleistung des schweizerischen Roten Kreuzes im Kanton St. Gallen, unter dessen Federführung die Zeitbörse arbeitet, die Verbindung hält. Dafür bekommt er acht Stunden pro Jahr gutgeschrieben. Jedes Mitglied «zahlt» eine Stunde jährlich für administrative Aufgaben und 30 Franken Mitgliedsbeitrag, die zum Teil anteilig an die Regionalgruppen zurück fliessen. Das Geld wird für den Druck der Mitgliederzeitung gebraucht oder in den Regionalgruppen beispielsweise für die Standgebühren auf einem Markt genutzt.

Nachfrage regelt das Angebot

Inzwischen ist Beat an der Reihe. Er bietet allerlei handwerkliche und gärtnerische Arbeiten an, sagt aber einschränkend, dass er eigentlich keine Bäume beschneiden kann. Und er bedauert, dass bei jenem Mitglied, bei welchem er gelegentlich mit seiner Frau die Sauna nutzen konnte, die Saunasteuerung defekt ist. Das ruft den Photoshop-Experten auf den Plan. «Eigentlich biete ich diese Leistung nicht an», sagt Roland, «aber ich kann auch Steuerungen reparieren. » Und hier wird klar, wie wichtig die monatlichen Treffen sind. Die Online- Plattform und die Marktzeitung sind das eine, aber die Ermittlung von Angebot und Nachfrage funktioniert am besten im persönlichen Gespräch.

Die Hemmschwelle nehmen

Elisabeth ist an der Reihe. Sie ist kein Mitglied und zum ersten Mal bei einem Treffen. Dass sie hier viel findet, was sie brauchen kann, weiss sie. Aber sie weiss nicht, was genau sie anbieten soll. Doch der Verlauf der Gespräche beruhigt sie, denn sie ist sicher, dass auch sie irgendwann gebraucht wird. «Ich habe zwei Arbeitsstellen, von der ich eine demnächst aufgebe», sagt sie, «dann habe ich viel Zeit übrig. » Diese Aussage erzeugt in der Runde herzhaftes Gelächter. Jene, die schon länger dabei sind, wissen, dass man nie Zeit übrig haben wird. «Wer neu zur Zeitbörse kommt», so Egli, «sammelt zunächst Minusstunden. Die Hälfte der Mitglieder muss rein rechnerisch im Minus sein, das geht gar nicht anders. Irgendwann ergibt sich aber für jeden die Möglichkeit, sein Konto auszugleichen. Nur die Stunden, die zirkulieren, sind die Stunden, die für jeden etwas bringen. » Elisabeth ist zuversichtlich. Beim Abschied wird sie staunend sagen, dass Annehmen und Schenken hier völlig neu definiert sind und zu einem spannenden Prozess werden. Das sieht auch Egli so. Man darf die viertel Stunde für das Brot von Johanna nicht verrechnen mit dem eigenen Stundenlohn in der Firma. Das Denken in Franken ist bei der Zeitbörse aufgehoben. Dort ist das Fensterputzen genauso viel wert, wie das Reparieren einer Steuerung durch einen Ingenieur. Jeder hat dabei gewonnen. «Die Idee dahinter», sagt Egli, «ist, dass man die Arbeiten, die man gern – und gut – erledigt, öfter macht, als die Arbeiten, die man nicht kann oder nicht gern ausführt.»

Zeitbörse goes Facebook

Der Altersdurchschnitt der ländlichen Regionalgruppen ist recht hoch. In der Stadt St. Gallen hingegen sind auch junge Leute rege Nutzer. Dort ist auch der Bedarf ein ganz anderer. Das «Hilfst-du-mirhelf- ich-dir-Prinzip» funktioniert in den Dörfern nämlich auch ohne Zeitbörse recht gut. Im oft anonymen Zusammenleben in der Stadt ist es umso hilfreicher, wenn man sich bei der Zeitbörse Unterstützung suchen kann. Entsprechend jünger sind die Mitglieder. Dort denkt man nun über die Gründung einer Facebook-Gruppe nach. Die Runde in Azmoos ist nicht begeistert. Für sie zählt der persönliche Kontakt. Aber die derzeit nur angedachte Jugendgruppe soll eine eigene Gruppe innerhalb der Zeitbörse werden, denn deren Angebote werden ohnehin ganz andere sein. Doch das soll nicht heissen, dass sie nicht mit allen Mitgliedern getauscht werden könnten. Das ist aber erstmal Zukunftsmusik. Trotzdem, die Zeitbörse wächst. Bei den Tauschgeschäften gab es von 2009 bis 2010 einen Zuwachs von 75 Prozent. Auch die Mitgliederzahl ist gestiegen, von 300 Anfang 2009 auf 450 Ende 2010. Wachstum bringt Vielfalt Der offizielle Teil ist vorbei. Es beginnt, lustig zu werden. Die Anwesenden gruppieren sich neu, persönliche Gespräche beginnen. Und Elisabeth, die Neue, ist mittendrin, denn sie hat hier Leute getroffen, die sie kennt. Jedes neue Mitglied ist eine Bereicherung für die Zeitbörse. Egli weiss das vom direkten Vergleich mit der Regionalgruppe Rheintal, dessen Interim-Regionalleiter er auch gerade ist. «Bei unseren 53 Mitgliedern im Werdenberg/Sarganserland ist viel mehr Aktivität zu verzeichnen als bei den 27 Mitgliedern im Rheintal», sagt Egli.

Viele gute Gelegenheiten

Regionalgruppen gibt es ausserdem in der Stadt St. Gallen, in Rorschach, im Rheintal, in Herisau, in Rapperswil-Jona, in Wil und im Appenzeller Mittelland. Zwar finden Tauschgeschäfte meist im näheren Umkreis der Mitglieder statt, aber auch unter den verschiedenen Regionalgruppen wird getauscht. So gibt es zum Beispiel ein Mittagsangebot in Lutzenberg/Rheineck. Pendler, die dort arbeiten, könnten sich, sofern sie der Zeitbörse angehören, den Gang ins Restaurant sparen. Wer nun neugierig geworden ist, der kann alle seine Vorbehalte über Bord werfen – die sind nämlich völlig fehl am Platz, weil jeder etwas zum Geben hat – und eines der nächsten Treffen (am 29. April, 18.30 Uhr im reformierten Kirchgemeindehaus in Räfis- Burgerau oder bereits früher, am Donnerstag, 14. April, 18.30 Uhr im Restaurant Sonne in Altstätten) besuchen. Unverbindlich. Freundlicher Empfang garantiert


Kleine Erfolgsgeschichte

November 2007 250 Interessenten besuchen
eine Informationsveranstaltung

Dezember 2007 Ein erster Werbespot läuft auf
Tele Ostschweiz

Januar 2008 Offizieller Start der Zeittauschbörse,
erste Tauschtreffs in St.
Gallen und Buchs

Oktober 2009 Das 400. Mitglied wird aufgenommen

Dezember 2009 Beitrag auf Tele Ostschweiz

März 2010 Beitrag in Schweiz Aktuell



www.zeitboerse.ch (Zeitbörse St. Gallen)

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